von Sehnsucht Berlin
Eine schön-beknackte Idee
Was für eine schön-beknackte Idee. – Das ist die letzte Mail, die uns noch auf der deutschen Autobahn Richtung Kiel auf dem Weg zur Göteborg-Fähre von einem Freund erreicht. Und während wir mit durchschnittlichen 90 Stundenkilometern in unserem spärlich ausgestatteten Sommer-Wohnmobil über den Asphalt gleiten, hören wir Truckermusik, albern vor Vorfreude herum wie kleine Kinder im Bälleparadies und verschmelzen immer mehr mit dem Singsang der Straße.
Aber von Anfang an: Wir, das sind Sepp und Rich. Zwei gewöhnliche Landlocked-Surfer aus Berlin. Im normalen Leben arbeiten wir für Werbeagenturen. Sepp als Fotograf und ich als Stratege beziehungsweise Konzeptioner. Vor rund einem Jahr hatten wir die Nase voll von dem ewigen Hamsterrad und dem unendlichen Verbrennen persönlicher Energie für die nächste, ach so revolutionäre Pizzakampagne. Wir waren – und sind es immer noch – auf der Suche nach dem, was das Leben wirklich ausmacht. Abenteuer! Raus aus der Komfortzone. Erinnerungen, die ein Leben lang bleiben und die eine wirkliche Bedeutung haben.
Irgendwann im Oktober 2016 war sie da, die schön-beknackte Idee. So ganz genau erinnern wir uns nicht mehr. Irgendwann zwischen verzweifeltem Versuch, dem Berliner Müggelsee eine Paddel-Session bei böigem Wind abzugewinnen, und anschließendem Tankstellen-Frustbier. „Lass uns einen Roadtrip zum Nordpolarkreis machen und dort surfen gehen. Im Winter! Bali kann jeder!“ Klingt verrückt, und das ist es auch. Aber gerade deshalb auch so charmant. Zwei Bier später war der 1. Januar 2017 als Abreisedatum gesetzt. Die Vorbereitungszeit war knapp und wir, als Amateurabenteurer, nicht wirklich erprobt für das, was uns bevorstehen würde.
Von Kiel per Fähre nach Göteborg und dann über Oslo und das norwegische Gebirge bis nach Trondheim. Von da aus eigentlich ist es fast ein Katzensprung bis nach Bodø, das auf Höhe des südlichen Endes der Lofoten liegt und auch so ungefähr den Nordpolarkreis markiert.
No way with your camper van
Und so sitzen wir leicht verkatert am Silvestermorgen in unserem völlig überladenen, fahrbaren Untersatz, der für die nächsten Wochen unser sicheres Zuhause gegen die arktischen Stürme und Kälte sein soll. Zwei Elf- Liter-Gasflaschen, ein Satz Schneeketten und ein Klappspaten sind alles, was wir dem norwegischen Winter entgegenzusetzen haben. Die 17-stündige Überfahrt nach Göteborg ist langweilig. Zwischen Bord-Bingo und Einarmigen Banditen versuchen wir die Zeit irgendwie totzuschlagen. Das Wasser zum Greifen nah, sind wir zwar nicht mehr landlocked, aber boatlocked. Unsere Gelassenheit sollte sich jedoch schnell ändern.
Über die gut ausgebaute E6 geht es schnell bis nach Oslo. Freie Straßen und teure Tankstellen gefühlt an jeder Straßenkreuzung machen es uns einfach. Dort treffen wir Alex, einen alten norwegischen Freund. Mit seiner Hilfe wollen wir die beste und schnellste Route Richtung Norden finden. Unseren Plan, dem Folgefonna-Gletscher auf unserem Weg einen Besuch abzustatten und in der Nähe die eine oder andere Snowboardsession im norwegischen Powder abzureiten, können wir direkt vergessen. Alex machte uns klar, dass in Oslo zwar noch nicht so viel Schnee liegt, aber oben in den Bergen in den letzten Tagen mehr als acht Meter runtergekommen seien. Und die Vorhersage sollte noch mehr Schnee bringen. No way with your camper van …
Schließlich siegte auch bei uns die Vernunft. Wir beschließen, weiter auf der E6 zu bleiben. Die führt auch bis nach Bodø zum Nordpolarkreis und vielleicht wird uns die vermeintliche Bundesstraße sogar noch etwas schneller zum Ziel bringen.
Schon als wir am nächsten Tag aus dem Speckgürtel Oslos raus sind, dämmert uns langsam, was wir auf den nächsten 6.000 Kilometern zu erwarten haben. Was wir als Zentraleuropäer gemeinhin als Bundesstraße kennen, ist in Norwegen oftmals nicht mehr als eine sich an Bergmassiven windende Straße, die auch gern mal mehrere Hundert Meter Höhenunterschied mit sich bringt. Im Sommer vielleicht idyllisch. Im Winter allerdings eine einzige, nicht enden wollende Eispiste.
Einmal auf der Straße gibt es kein Zurück mehr. Räumfahrzeuge so groß wie ein Reihenmittelhaus haben den gefallenen Schnee der letzten Wochen meterhoch an den Straßenrand gedrückt, was selbst einen kurzen Stopp in einer Parkbucht unmöglich macht. Kurven fahren wir ausschließlich im Drift und wir fühlen uns wie in einer riesigen, schlitternden Achterbahn. Alex sollte recht behalten. Es schneit ununterbrochen. Vorbei ist die Gelassenheit. Willkommen im Abenteuer außerhalb der Komfortzone.
Die nächste Woche erleben wir wie in Trance. Ein Tag gleicht dem anderen. 200 Kilometer Strecke ist in etwa das Tagespensum, was wir leisten müssen. Und je nördlicher wir kommen, desto schlimmer werden die Bedingungen. Mehr Schnee, mehr Eis, mehr Kälte, schlechtere Straßen und so langsam verabschiedet sich auch das Tageslicht. Ein wenig Helligkeit gibt es ab 10.30 Uhr morgens und um 14.30 Uhr ist es schon wieder stockdunkel. Trotz Heizung wärmt sich das Wohnmobil nicht mehr auf und die einzigen ruhigen Momente gibt es am späten Abend, als wir todmüde, mit Mütze und Winterkleidung, in unsere Schlafsäcke kriechen. Doch irgendetwas treibt uns trotzdem weiter Richtung Norden.
Nach etwa zehn Tagen dunkler Eispiste stehen wir vor dem magischen Pass, der uns über den Polarkreis bringen soll. Hier ist aber erst mal Schluss. Der Pass ist gesperrt. Wir müssen bis zum nächsten Morgen warten, wo wir und die wenigen anderen gestrandeten Lkw mit einem Begleitfahrzeug der norwegischen Straßenwacht über den Pass geleitet werden. Alle anderen Fahrzeuge sind mit Spikes ausgestattet und während wir noch unsere Schneeketten suchen, geht es auch schon los. Keine Zeit für Schnickschnack, sagt man uns, und als Sepp und ich wie ein altes Ehepaar im Wohnmobil über die Schneeketten streiten, sind wir auch schon drüber. Ein kleines, schneeverwehtes Schild markiert den Punkt, der für uns in den letzten Tagen ein manisches Ziel geworden ist. 66° 33′ 55“. Wir haben es geschafft.
Arctic Surfers
Zwischen uns wird es still. Überglücklich und mit Tränen in den Augen folgen wir dem Autokorso durch die schneeverwehte, weiße Landschaft. Unwirklicher kann ein Ort auf dieser Welt nicht sein und wir sind mittendrin. Zwei Normalos aus Berlin, im Winter am Nordpolarkreis. In uns macht sich jetzt eine gewisse Routine breit. Viel schlimmer kann der Rest der Reise nicht werden, denn die erste Etappe – die Überquerung – haben wir geschafft. Der zweite Teil, das Surfen am Nordpolarkreis, liegt aber noch vor uns.
Bis nach Bodø und auf die Lofoten geht es dann schnell. Durch die Nähe zum Golfstrom wird es etwas wärmer. Leider hat das aber keinen Einfluss auf die Wettersituation. Nach Eis und Kälte folgen jetzt Graupelschauer und Schnee, die sich zu einer unberechenbaren Pampe vereinen. Die Angst fährt weiterhin mit.
Die Überfahrt ist rau, am nächsten Tag wird aufgrund der Vorhersage sogar der Fährbetrieb eingestellt. Und genauso präsentieren sich die Lofoten zu einer Jahreszeit, in der selbst Einheimische kaum das Haus verlassen und Touristen schon gar nicht ihren Weg in die zerklüftete Landschaft finden. Jede Sekunde ist atemberaubend. Die surreale Landschaft, das Spiel der Wellen und der sich ständig drehende Wind. Wir selbst werden Teil der Naturgewalt und verschmelzen mit dem unendlichen Grau unserer Umgebung. Nichts ist planbar. Alles abhängig vom Wetter. Wir sind wie Astronauten, die in ihrem kleinen Habitat den Bedingungen trotzen.
Trotz der guten Vorhersagen ist die Surfausbeute bescheiden. Wir durchqueren die Lofoten an der Westküste, immer auf der Suche nach guten Spots. Aber wir kommen an unsere Grenzen. Nach 30 Minuten im Wasser werden Hände und Füße taub. Unsere Muskeln ziehen sich zusammen und fangen an zu krampfen. Selbst die dickste Neoprenschicht hilft nicht mehr. Die Strömung ist unendlich stark und eine Seenotrettung im Fall der Fälle einfach undenkbar. Ein Fehler und das Meer hätte uns Tausende Meilen bis nach Grönland gespült.
Trotzdem surfen wir den Polarkreis. Nicht so, als hätten wir einen fabelhaften Tag auf Bali. Keine Endlossessions im kristallinen Wasser, sondern schwarze, rauschende Wände im Dämmerlicht. Wir gehen dabei über unsere Grenzen, überwinden die Angst und stellen uns der Natur. Wir sind jetzt Arctic Surfers. So ähnlich, als wenn man mit einem Kreuzfahrtschiff den Äquator überquert und eine Touri-Taufe bekommt. Keine Medaille, keine Erwähnung, aber wir wissen, dass wir es gemacht haben. Und neben uns nur eine Handvoll anderer Menschen auf diesem Planeten.
North of the Sun
Einer Herausforderung wollen wir uns allerdings noch stellen, bevor es zurück in die Heimat geht. Schon im Vorfeld haben wir den Film „North of the Sun“ gesehen und im Internet recherchiert, wo diese Bucht und die aus Strandgut gebaute Hütte zu finden ist. Wir wissen, dass es viele Spekulationen gibt. Aller Wahrscheinlichkeit nach liegt die Bucht an der Westküste der Lofoten. Das glauben wir zumindest und mit Hilfe von Google Maps navigieren wir zu einer kleinen Parkbucht, wo wir das Wohnmobil abstellen und uns schwer bepackt auf den Weg machen.
Es soll ein vierstündiger Marsch über ein Bergmassiv sein und eigentlich wollen wir zumindest eine Nacht in der Hütte verbringen. Der schmale Pfad schlängelt sich langsam den Berg hinauf und schon nach wenigen Metern verliert sich der Weg. Es wird immer steiler und beschwerlicher sich durch die schneebedeckten Geröllfelder zu kämpfen. Völlig erschöpft schaffen wir es bis zum höchsten Punkt und müssen feststellen, dass unser Weg auf der anderen Seite noch beschwerlicher ist.
Fasziniert von dem Gedanken sie wirklich gefunden zu haben, beginnen wir den Abstieg. Aber das Wetter wird schlechter und ein Schneesturm zieht auf, zudem überrascht uns die schnell einsetzende Dunkelheit. Auf halber Abstiegshöhe angekommen, können wir fast die ganze Bucht einsehen und irgendwie verfestigt sich der Gedanke, dass wir vielleicht doch falsch liegen. Eine Hütte am Strand können wir aus der Entfernung im schummrigen Licht nicht ausmachen und der Schneesturm wird immer stärker. Als sich dann in ca. 50 Meter Entfernung eine Gerölllawine löst und mit ohrenbetäubenden Krachen an uns vorbei rauscht, ziehen wir endgültig die Reissleine. Ab jetzt ist es nicht mehr nur außerhalb der Komfortzone, sondern einfach nur noch dumm und lebensmüde.
Schnell entscheiden wir, dass wir umkehren müssen. Als wäre die Situation nicht schon brenzlig genug, verklettern wir uns auf dem Weg zurück und verlieren völlig die Orientierung. Mit dem kleinen Lichtkegel unserer Taschenlampen im Schneegestöber können wir nicht mehr ausmachen, wo wir uns befinden und schleichend macht sich Panik breit.
Nach Stunden des Umherirrens finden wir durch Zufall unsere eigenen Fußspuren im Schnee und können ihnen folgen. Völlig fertig, aber froh, mit dem Schrecken davon gekommen zu sein, erreichen wir mitten in der Nacht fast 12 Stunden später unser Wohnmobil. Erst sehr viel später sollen wir herausfinden, dass wir gar nicht so falsch lagen. In der Tat befindet sich die Bucht von „North of the Sun“ hinter dem Bergmassiv, in dem wir uns verirrt haben. Sie ist lediglich eine Bucht weiter und wir haben geschworen, dass wir eines Tages wiederkommen werden.
Ein „einfacher“ Heimweg
Nach einer Woche voller fantastischer Eindrücke treten wir die Rückreise an. Einmal quer von Norwegen nach Schweden und dann von Nord nach Süd durch Lappland. Straßentechnisch ist Schweden besser bestellt als Norwegen, aber wir haben die Rechnung ohne den Sprit gemacht. Die Straße ist in der Tat einfacher zu fahren, jedoch friert bei minus 25 Grad der Diesel im Tank ein. Nach all den Strapazen bis hierher ein absolutes Desaster. Wir stellen die Heizung auf ein Minimum, sparen Strom und stellen uns gedanklich auf das Schlimmste ein. Nach nicht enden wollenden acht Stunden des Wartens kommt endlich ein Abschleppwagen. Nach einer Zwangspause im Hotel und einem neuen Dieselfilter schaffen wir es nach Malmö und dann weiter bis nach Berlin.
Was bleibt? 6.500 Kilometer Eispiste, 35 Stunden Fährfahrten, vier Länder, Blizzards, Lawinen, Schneestürme, Kälte und ewige Dunkelheit. Erinnerungen an eine unsagbare Zeit. Wir haben mit dem, was wir gemacht haben, unserem Leben etwas mehr Bedeutung gegeben. Seitdem wir zurück sind, sehen wir viele Dinge aus einer anderen Perspektive. Wir versuchen jeden Tag so intensiv wie möglich zu gestalten, sehen unsere Umwelt mit anderen Augen und merken, dass es mit uns auf Dauer in unserer alten Welt nicht funktioniert. Wir sind infiziert. Und wir wollen mehr. Mehr von dem, was da draußen auf jeden von uns wartet. Der Körper ist zurück, aber die Seele ist immer noch dort oben im Norden jenseits des Polarkreises.
SEHNSUCHT. Sepp und Rich, Surfer und Reisende, Abenteurer und Väter. Skater und Kiter, Surfer und Snowboarder. Zwei, die mit ihren Worten und großartigen Bildern Geschichten erzählen wollen. Normalerweise Landlocked in Berlin, begeben sie sich auf verrückte Abenteuer. Egal ob zum nächsten Dänemarktrip oder wie im zutiefst winterlichen Januar auf die Lofoten. Sepps und Richs Geschichten könnt ihr auf sehnsucht-berlin.com, Facebook und Instagram verfolgen.